Der Taoist
Beschreibung
Mario Mantese, 211 S., geb. m. SU, 17,6 x 11 cm
Meister Wang
Der Meister lebte außerhalb eines kleinen Bergdorfs in einer östlichen Provinz des Riesenreiches. Er war ein älterer, würdevoller, gebildeter und kultivierter Mann, der ein gepflegtes Mandarin sprach.
Die kleine bescheidene Hütte, in der er wohnte, war eine Einsiedelei. Sie stand zuhinterst in einem Tal auf einer Anhöhe in einem alten Kiefernwald.
Bis in das nächstgelegene Dorf war es ein mehrstündiger Fußmarsch, doch dort sah man ihn selten. Ab und zu beim Einkaufen von Lebensmitteln und bei Bauern, denen er beim Lesen und Schreiben von Briefen half. Als Gegenleistung erhielt er Reis, Gemüse, Tee und andere Dinge.
Etwa hundertsechzig Einwohner lebten in diesem kleinen Dorf, so genau wusste das niemand, und es schien auch niemanden wirklich zu interessieren. Die Bauern waren arm und verfügten über wenig Geld, deshalb tauschten sie ihre Waren und halfen sich gegenseitig aus.
Gegenseitige Rücksichtnahme war das Allerwichtigste in ihren Beziehungen, sie bildete die Grundlage ihres sozialen Zusammenhalts. Dies galt innerhalb der Familien wie auch im Gebilde der Gemeinschaft, denn das Verhalten jedes Einzelnen war mitbestimmend für das fragile Gleichgewicht der gesamten Gemeinschaft. Dessen waren sie sich aufgrund der Erfahrungen früherer Generationen bewusst, und das gehörte zu ihrem Grundverständnis.
Meister Wang war im Dorf hoch angesehen. Er hatte den Dorfältesten bei einer Besprechung erklärt, dass nur die Kraft der Klarheit das Leben zum Erblühen bringe und dass eine wohl durchdrungene Ordnung in Einklang mit Himmel und Erde sei.
Von seiner Einsiedelei sah er zwischen den Bäumen hindurch ins Tal hinunter. Leuch-tende Reisfelder wogten sanft im Wind, um sie herum breitete sich eine saftige Graslandschaft aus. Alte, kräftige Bäume wuchsen in dieser stillen und fruchtbaren Gegend, majestätisch reckten sie ihre Äste dem Himmel entgegen. Im Unterholz zwischen blühenden Büschen lagen große Steine, die mit feuchtem hellgrünem Moos überwachsen waren. Seit Jahrhunderten verharrten sie stumm und reglos an ihrem Ort.
Jeden Morgen saß der Meister vor der Einsiedelei auf einem verwitterten Holzstuhl und trank seinen Tee. In sich ruhend beobachtete er die Gegend, die Schwalben, die unter dem Dach gekonnt ihre Nester bauten, und eine Amsel, die in einem nahen Busch ihre Jungen fütterte. Er genoss die Natur, mit der er sich verbunden fühlte.
Meister Wang lebte im Verborgenen, doch zu verbergen hatte er nichts. Das Verborgene entsprach auf natürliche Weise seinem So-Sein in der Welt. Er war nie Hausherr, sondern immer Gast in dieser Welt gewesen, und in diesem Gast-Sein fand er Ruhe und seine Bestimmung. Er genoss das Reglose, in dem er ruhte, und er genoss die Lebendigkeit in der Bewegung.
Sein Leben war frei von Eifer, Hast, Drang und Gegensätzen; er lebte bewusst im Weltbewusstsein und bewusst vor dem Weltbewusstsein. Sein Dasein gründete in Tiefen, in denen weder ein Innen noch ein Außen existierten, er lebte in der Stille des Tao.
Sein Atem war tief wie der Ozean, er sog Lebenskraft ein und nährte seinen Leib durch Bewegung, doch die Grenzen der atmenden Gestalt hatte er längst transzendiert, in ihm war es still. Seine reine und kraftvolle Anwesenheit war stets in Resonanz und Übereinstimmung mit der ursprünglichen himmlischen Kraft. Weder das Leben noch der Tod wagten es, sich ihm zu nähern, denn seine Wanderschaft über die Zeit hinaus hatte er längst beendet.
Das Unergründliche hatte für ihn aufgehört, unergründlich zu sein, das Geheimnisvolle war entmystifiziert. Er hing nicht mehr am Leben, und das Leben hing nicht an ihm. Er war Tao.